Donnerstag, 26. Dezember 2013

Brief aus Wien (5) - Die Familie meiner Mutter

Stets verehrte Obertanen!

Manche Einflüsse waren seit je vorhandenen in unseren Leben, ohne dass wir ihren Ursprung genau kennten. So wie ein Baum, den man als Kind im elterlichen Garten vorfindet und der nach unserer Erfahrung stets dort schon stand und von jeher groß und mächtig gewesen ist. Wer hat den Baum gepflanzt? Oder ging von selbst ein Same auf? Wir wissen es nicht.
Sollten wir eines Tages mehr herausfinden über die Geschichte dieses Baums, macht uns das ein Stückchen ganzer. Dies gilt umso mehr, wenn der Baum, um den es sich handelt unser Stammbaum ist.
In Wien habe ich die Familie meiner Mutter neu entdeckt.
Dass diese Familie eng mit der Stadt Wien verbunden ist, war mir freilich kein Geheimnis. Mein Urgroßvater Theo Prosel ist der Verfasser eines Wienerliedes, das bis heute wirklich jeder kennt, wie ich feststellen durfte. Meine Urgroßmutter, die Koloratursopranistin Julia Prosel, gab hier dem jungen Peter Alexander Gesangsunterricht. Der Journalist Robert Prosel entstammt unserer Familie. Einiges an Verwandtschaft wohnt in und um Wien, und ich gelobe, die nächste Gelegenheit zu nutzen, den Kontakt aufzufrischen.
Jetzt aber sitze ich beim Weihnachtsfest von Stefan Riedl, unterhalte mich köstlich mit dessen Mutter und Tante und vermeine, mich mit „der Urtante“, mit der Tante Resi oder mit meiner 92jährigen Oma zu unterhalten, so vertraut ist das alles. „Bis 90 geht es eigentlich sehr gut. Mit 100 wird’s nach und nach mühselig“, befindet Lady Riedl. Die Dame des Hauses ist wesentlich jünger, aber die Kunst des hohen Alters scheint in dieser Familie, genau wie in meiner mütterlichen, bei den Damen hoch entwickelt.
Ich vergreife mich ein weiteres Mal an einer mit Marzipan gefüllten Dattel und abgesehen davon, dass die gesicherte Zufuhr Marzipan gefüllter Datteln in die Menschenrechtscharta der Vereinten Nationen aufgenommen gehört, könnte dieses kleine Vorlegtellerchen ebenso wie diese winzige Vorlegzange aus dem Haushalt meiner Großmama stammen.
Nicht, dass auch dieses weitere, umwerfende Stadthaus der Familie Riedl so ohne weiteres aus dem Besitz meiner Familie stammen könnte. Das Vagabundieren der Künstler hat uns Besteck, einige Möbel und Bilder gelassen, aber aus Schlössern in Südtirol, großbürgerlichen Wohnungen in Wien oder Villen am Starnberger See wurden zwischen zwei Weltkriegen jene Reihenhäuser um München, in denen aufzuwachsen ich die Ehre hatte. Es hat eh auch so gepasst, jedoch der hartnäckigenTendenz zum Schlossbesitz in meiner Familie habe ich eines Tages doch nachgeben müssen.
Aber es geht hier nicht um Besitz und die Größe der Behausungen. Es geht um Kultur. Roland zum Beispiel! Roland erzählt von der Wiener Staatsoper – Anekdoten von alten Stars und Skandalöses von neuerlichen Ärgernissen – wie einer über die Macken der neuen Backröhre in der Küche spricht oder über Erlebnisse auf dem Pausenhof zur Unterstufenzeit.
So berichtet er von Maestro Spielvogel. Dieser Verkehrspolizist regelte über lange Jahre den Verkehr der stark befahrenen Kreuzung vor der Oper und tat dieses mit so filigranen Dirigierbewegungen, dass ihn die Opernliebhaber ins Herz schlossen und zum Maestro erhoben. Am Ende hat Maestro Spielvogel eine gefeierte Sängerin geheiratet.
Nunmehr entspinnt sich zwischen Roland und dem jungen Tenor ein Gespräch über die Aufführungsschwierigkeiten des Trovatore, und Roland legt spontan die Wiener Inszenierungsgeschichte dieser Verdi-Oper dar.
Und immer wieder geht es in den Gesprächen dieses prachtvollen Abends um Sprache – und welche Sprache hier gesprochen wird! Satzbau, Satzbau, Baby blue! Keine Hauptsatzstafetten, sondern echter, wohlgeformter Satzbau! Und das weiche Wienerisch macht sie schön und lieblich, diese allzu oft so bitter harte deutsche Sprache, die ich liebe.
Ich gebe mich überzeugt, die Wiener hätten im Falle eines erfolgreichen Türkensturms auch vermocht, den Islam weichzuklopfen wie ein Wiener Schnitzel! Die Tante Riedl bleibt da entschieden skeptisch, zumal sie meine begeisterte Hinwendung zum 17. Jahrhundert mit dem Verweis auf die zweimalige Türkenbelagerung Wiens in diesem Siècle hinterfragt. Wir einigen uns nach hochdiplomatischen Verhandlungen gütlich auf „spätes 17. bis Mitte 18. Jahrhundert“. Meinem Wunsch, das Zeitalter der Nationalstaaten und jeglichen Anflug von Industrialisierung weiträumig herausnehmen zu wollen, gibt diese hinreissende Dame lebhaft zustimmend statt.
Überhaupt sind sie ziemlich lebhaft, diese älteren und jüngeren Herrschaften im Hause Riedl. Es zieht mich fast mehr zu den älteren Exemplaren als zu dem jüngeren, meistenteils schwulen Volk, das heute hier angetreten ist.
Das Fachgespräch unter Sängern mit dem jungen Tenor allerdings, über die Rolle des Deep Throats in der Stimmbildung unter besonderer Berücksichtigung der Finessen der Atemtechnik, möchte ich fürs Leben nicht missen wollen. Dass ein anderer es wagt, mir zu attestieren, dialektal habe bei mir offenkundig das Kölsch massiv eingeschlagen, empfinde ich trotz meiner Liebe zu diesem linguistisch einzig anerkannten Stadtdialekt als einen solchen Affront, dass ich die richtige Aussprache und Schreibweise seines Namens hiermit bass ignoriere und ihn ganz einfach Kwang nenne. So!
Der Christbaum im Hause Riedl sei erwähnt, denn er hätte manchem Rathausvorplatz Ehre gemacht. Und immer wieder kommen mir die Ringelnatz-Worte in den Sinn:
Mich zieht's mit Geisterhänden / ob ich will, ob nicht: ich muss! / Nach den bildgeschmückten Wänden / in den Simplicissimus!“
Die Bilder an diesen Wänden sind, sofern es sich nicht um historische Werke handelt, aus Stefan Riedls eigner Hand. Wieder stehe ich minutenlang vor diesen Bildern, die über und über die hohen, holzgetäfelten Wände bedecken. Der Riedl, denke ich mir, muss aufpassen! Sonst erklären sie ihm diese ganze Etage noch zu Lebzeiten zum Weltkulturerbe und dann darf er selber Eintritt zahlen...
Erwähnt sei, für die Bibliophilen unter uns, ein Fundstück im Riedlschen Bücherregal, welches ich aus der Ferne erst für die Gesammelte Werke Lenins gehalten hatte. Es sind das aber die gut zwanzig Bände „Neues Allgemeines Künstler-Lexikon“. Der sechste Band, den ich mir herausgegriffen habe, wurde 1838 verlegt und gibt, wie es im Untertitel heißt, Kunde von dem Leben und den Werken der „Maler, Bildhauer, Baumeister, Kupferstecher, Formschneider, Lithographen, Zeichner, Medailleure, Elfenbeinarbeiter, etc.“
Ich finde es etwas schofel, dass die Goldbrokateure keine Erwähnung fanden, allerdings: „Medailleure, Elfenbeinarbeiter, etc.“ das hat schon was! Ich sage es ergriffen vor mich hin, aber es ist spät geworden bei all den wundervollen Gesprächen und Entdeckungen und jetzt ziehen „Kwang“, der junge Tenor, der Italiener und ich weiter zu einer queeren Clubparty.
Im Garten des Hauses drei, vier tiefe Atemzüge lang verweilend, beschließe ich, meine Großmama im Frühling für eine Woche nach Wien zu entführen.







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