Stets verehrte Obertanen!
Manche
Einflüsse waren seit je vorhandenen in unseren Leben, ohne dass wir
ihren Ursprung genau kennten. So wie ein Baum, den man als Kind im
elterlichen Garten vorfindet und der nach unserer Erfahrung stets
dort schon stand und von jeher groß und mächtig gewesen ist. Wer
hat den Baum gepflanzt? Oder ging von selbst ein Same auf? Wir wissen
es nicht.
Sollten
wir eines Tages mehr herausfinden über die Geschichte dieses Baums,
macht uns das ein Stückchen ganzer. Dies gilt umso mehr, wenn der
Baum, um den es sich handelt unser Stammbaum ist.
In Wien
habe ich die Familie meiner Mutter neu entdeckt.
Dass
diese Familie eng mit der Stadt Wien verbunden ist, war mir freilich
kein Geheimnis. Mein Urgroßvater Theo Prosel ist der Verfasser eines
Wienerliedes, das bis heute wirklich jeder kennt, wie ich feststellen
durfte. Meine Urgroßmutter, die Koloratursopranistin Julia Prosel,
gab hier dem jungen Peter Alexander Gesangsunterricht. Der Journalist
Robert Prosel entstammt unserer Familie. Einiges an Verwandtschaft
wohnt in und um Wien, und ich gelobe, die nächste Gelegenheit zu
nutzen, den Kontakt aufzufrischen.
Jetzt
aber sitze ich beim Weihnachtsfest von Stefan Riedl, unterhalte mich
köstlich mit dessen Mutter und Tante und vermeine, mich mit „der
Urtante“, mit der Tante Resi oder mit meiner 92jährigen Oma zu
unterhalten, so vertraut ist das alles. „Bis 90 geht es eigentlich
sehr gut. Mit 100 wird’s nach und nach mühselig“, befindet Lady
Riedl. Die Dame des Hauses ist wesentlich jünger, aber die Kunst des
hohen Alters scheint in dieser Familie, genau wie in meiner
mütterlichen, bei den Damen hoch entwickelt.
Ich
vergreife mich ein weiteres Mal an einer mit Marzipan gefüllten
Dattel und abgesehen davon, dass die gesicherte Zufuhr Marzipan
gefüllter Datteln in die Menschenrechtscharta der Vereinten Nationen
aufgenommen gehört, könnte dieses kleine Vorlegtellerchen ebenso
wie diese winzige Vorlegzange aus dem Haushalt meiner Großmama
stammen.
Nicht,
dass auch dieses weitere, umwerfende Stadthaus der Familie Riedl so
ohne weiteres aus dem Besitz meiner Familie stammen könnte. Das
Vagabundieren der Künstler hat uns Besteck, einige Möbel und Bilder
gelassen, aber aus Schlössern in Südtirol, großbürgerlichen
Wohnungen in Wien oder Villen am Starnberger See wurden zwischen zwei
Weltkriegen jene Reihenhäuser um München, in denen aufzuwachsen ich
die Ehre hatte. Es hat eh auch so gepasst, jedoch der
hartnäckigenTendenz zum Schlossbesitz in meiner Familie habe ich
eines Tages doch nachgeben müssen.
Aber es
geht hier nicht um Besitz und die Größe der Behausungen. Es geht um
Kultur. Roland zum Beispiel! Roland erzählt von der Wiener
Staatsoper – Anekdoten von alten Stars und Skandalöses von
neuerlichen Ärgernissen – wie einer über die Macken der neuen
Backröhre in der Küche spricht oder über Erlebnisse auf dem
Pausenhof zur Unterstufenzeit.
So
berichtet er von Maestro Spielvogel. Dieser Verkehrspolizist regelte
über lange Jahre den Verkehr der stark befahrenen Kreuzung vor der
Oper und tat dieses mit so filigranen Dirigierbewegungen, dass ihn
die Opernliebhaber ins Herz schlossen und zum Maestro erhoben. Am
Ende hat Maestro Spielvogel eine gefeierte Sängerin geheiratet.
Nunmehr
entspinnt sich zwischen Roland und dem jungen Tenor ein Gespräch
über die Aufführungsschwierigkeiten des Trovatore, und Roland legt
spontan die Wiener Inszenierungsgeschichte dieser Verdi-Oper dar.
Und
immer wieder geht es in den Gesprächen dieses prachtvollen Abends um
Sprache – und welche Sprache hier gesprochen wird! Satzbau,
Satzbau, Baby blue! Keine Hauptsatzstafetten, sondern echter,
wohlgeformter Satzbau! Und das weiche Wienerisch macht sie schön und
lieblich, diese allzu oft so bitter harte deutsche Sprache, die ich
liebe.
Ich gebe
mich überzeugt, die Wiener hätten im Falle eines erfolgreichen
Türkensturms auch vermocht, den Islam weichzuklopfen wie ein Wiener
Schnitzel! Die Tante Riedl bleibt da entschieden skeptisch, zumal sie
meine begeisterte Hinwendung zum 17. Jahrhundert mit dem Verweis auf
die zweimalige Türkenbelagerung Wiens in diesem Siècle hinterfragt.
Wir einigen uns nach hochdiplomatischen Verhandlungen gütlich auf
„spätes 17. bis Mitte 18. Jahrhundert“. Meinem Wunsch, das
Zeitalter der Nationalstaaten und jeglichen Anflug von
Industrialisierung weiträumig herausnehmen zu wollen, gibt diese
hinreissende Dame lebhaft zustimmend statt.
Überhaupt
sind sie ziemlich lebhaft, diese älteren und jüngeren Herrschaften
im Hause Riedl. Es zieht mich fast mehr zu den älteren Exemplaren
als zu dem jüngeren, meistenteils schwulen Volk, das heute hier
angetreten ist.
Das
Fachgespräch unter Sängern mit dem jungen Tenor allerdings, über
die Rolle des Deep Throats in der Stimmbildung unter besonderer
Berücksichtigung der Finessen der Atemtechnik, möchte ich fürs
Leben nicht missen wollen. Dass ein anderer es wagt, mir zu
attestieren, dialektal habe bei mir offenkundig das Kölsch massiv
eingeschlagen, empfinde ich trotz meiner Liebe zu diesem linguistisch
einzig anerkannten Stadtdialekt als einen solchen Affront, dass ich
die richtige Aussprache und Schreibweise seines Namens hiermit bass
ignoriere und ihn ganz einfach Kwang nenne. So!
Der
Christbaum im Hause Riedl sei erwähnt, denn er hätte manchem
Rathausvorplatz Ehre gemacht. Und immer wieder kommen mir die
Ringelnatz-Worte in den Sinn:
„Mich
zieht's mit Geisterhänden / ob ich will, ob nicht: ich muss! / Nach
den bildgeschmückten Wänden / in den Simplicissimus!“
Die
Bilder an diesen Wänden sind, sofern es sich nicht um historische
Werke handelt, aus Stefan Riedls eigner Hand. Wieder stehe ich
minutenlang vor diesen Bildern, die über und über die hohen,
holzgetäfelten Wände bedecken. Der Riedl, denke ich mir, muss
aufpassen! Sonst erklären sie ihm diese ganze Etage noch zu
Lebzeiten zum Weltkulturerbe und dann darf er selber Eintritt
zahlen...
Erwähnt
sei, für die Bibliophilen unter uns, ein Fundstück im Riedlschen
Bücherregal, welches ich aus der Ferne erst für die Gesammelte
Werke Lenins gehalten hatte. Es sind das aber die gut zwanzig Bände
„Neues Allgemeines Künstler-Lexikon“. Der sechste Band, den ich
mir herausgegriffen habe, wurde 1838 verlegt und gibt, wie es im
Untertitel heißt, Kunde von dem Leben und den Werken der „Maler,
Bildhauer, Baumeister, Kupferstecher, Formschneider, Lithographen,
Zeichner, Medailleure, Elfenbeinarbeiter, etc.“
Ich
finde es etwas schofel, dass die Goldbrokateure keine Erwähnung
fanden, allerdings: „Medailleure, Elfenbeinarbeiter, etc.“ das
hat schon was! Ich sage es ergriffen vor mich hin, aber es ist spät
geworden bei all den wundervollen Gesprächen und Entdeckungen und
jetzt ziehen „Kwang“, der junge Tenor, der Italiener und ich
weiter zu einer queeren Clubparty.
Im
Garten des Hauses drei, vier tiefe Atemzüge lang verweilend,
beschließe ich, meine Großmama im Frühling für eine Woche nach
Wien zu entführen.
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