Freitag, 27. Dezember 2013

Brief aus Wien (6) Professor Fahim

Höchst geachtete Obertanen!
Sich zum Frühstück einen doppelten Espresso und drei Wodka zu bestellen, zeugt von intellektuellem Format. Ich kann Fahim dennoch nicht ganz folgen. Brav übernehme ich es, immerhin einen der drei Wodken zu trinken.
Zu mehr sehe ich mich nicht in der Lage. Keine halbe Stunde zuvor habe ich mit dem schönen Alef im Bett herumgelungert. Aber Alef, der Fetzenrausch, den ich mir zusammengesoffen und -geraucht habe, sowie der längste Zungenkuss meines Lebens – das alles gehört zu den unerzählt bleibenden Geschichten meines Heiligen Abends in Wien.
Gerne berichte ich vom Frühstück mit Fahim, the day after.
Fahim!
Fahimski!
Fahimowitch!
Wir haben uns um die Jahrtausendwende kennengelernt und seit mindestens 12 Jahren keinen Kontakt mehr gehabt. 1999, 2000, das war so die Zeit, als das Projekt „Weltrevolution unter meiner höchstpersönlichen Führung“ gerade den bösesten Schiffbruch erlitten hatte. War von vornherein auch alles viel zu kleinkariert konzipiert...
Von einer Sturmflut, die ausgeblieben war, an Land zurückgelassen, hing ich wie ein kranker Fisch in Hamburg herum. Ich hatte neben der Perspektive einer erfolgreichen Weltrevolution keinerlei Plan B zur Hand. Dafür hatte ich die allerschönsten Depressionen.
„Es hat ein paar Tausend Leute gegeben, die in Dir den Lenin unserer Generation gesehen haben. So wurdest Du auch verkultet...“ erinnert sich Fahim und setzt schonend hinzu, es sei das doch ein an sich recht sympathischer Personenkult gewesen.
Zu dieser Zeit kam ich die ersten Male nach Wien. Erst zur riesigen Demonstration auf dem Heldenplatz gegen die Beteiligung von Jörg Haiders FPÖ an der Regierung Schüssel. Später war ich für zwei oder drei Wochen in Wien, und durchaus mit dem Ziel, dazubleiben.
Nur sind Depressionen und Wien eine notorisch gefährliche Kombination. In dieser Stadt zum schönsten Sterben gibt es Vollmondnächte, in denen sich der feuchtkalte Nebeldampf mit dem aus der Wiener Kanalisation aufsteigenden Fäulnisgestank verbündet. Solche Wiener Nächte sollte man nach Tunlichkeit nicht inmitten einer psychischen Krise absolvieren.
Kurz, es hat mich psychisch zerlegt damals in Wien. Meine schwer verwundete schwule Seele konnte auch das österreichische Offensiv-Spießertum nicht gut ertragen. So floh ich weiter, durch Deutschland und Europa chaotisierend, haltlos, Oscar Wilde lesend, fickend und verzweifelnd, schreibend und schreiend - bis mich ein gütiges Schicksal schließlich in die erholsame Stadt Köln und an die Ufer des Rheinganges lotste.
„El Fahimo!“ platze ich jetzt heraus, mitten im Gespräch, im Cafe Kent am Yppenplatz. Wir umarmen uns und lachen laut. Was mich so wahnsinnig freut: wir sind uns begegnet in einem geistig rigiden Umfeld, in einer Welt radikalisierter Engstirnigkeit. Dann sieht man sich zwölf Jahre nicht und muss feststellen: nach einer intellektuellen Achterbahnfahrt sondergleichen sind wir theoretisch absolut auf der gleichen Linie zum Stehen gekommen. Und diese neue Linie heisst: Fuck you, Linie! Fuck you, Stillstand!
„Wir sind Antisystemiker“, sagt Fahim. Es läuft hinaus auf den 1. Gödelschen Unvollständigkeitssatz von 1931, nach dem österreichischen Mathematiker Kurt Gödel:
„Jedes hinreichend mächtige, rekursiv aufzählbare formale System ist entweder widersprüchlich oder unvollständig.“

Fahimski ist inzwischen Professor. Er hat sich als Crazy Thinker einen Namen in der intellektuellen Szene gemacht, und ich bin froh bei der Gelegenheit zu erfahren, dass es eine intellektuelle Szene noch gibt.
Fahim reitet die ganz krassen Theoriewellen. Er referiert über „Nicht-menschliche Architekturen im Urbanismus der Moderne“ oder „Polemik als Performance. Das polemische Agieren in der Selbstinszenierung“. Professor Fahim treibt auch „Politische Zoologie“ und veranstaltet Forschungsprojekte über Tauben in der Großstadt, die er aufgrund ihrer alles zersetzenden Exkremente als Agenten einer Gegendenkmalpflege begreift.
Fahims Texte werden als Paradebeispiele akademischer Unverständlichkeit attackiert und gefeiert. „Die Fremdworte sind die Juden in der Sprache“, kontert Fahim mit Adorno. Wir mögen Juden. Uns sind die fremdesten Fremdworte keine Fremden, sondern neue Freunde.
Wir entzünden uns gegenseitig an unseren Sprachen, Fahim und ich. Mag sein, dass der Wodka sein Übriges dazutut. Ich nutze den inspirierten Moment, um nach einer Staatsform (Anarcho-Monarchismus) und einer Religionsrichtung (atheistischer Polytheismus) endlich auch eine Philosophische Schule zu begründen. Fahim ist begeistert von meiner Schöpfung: dem „kollektivistischen Solipsismus“!
Ich bin begeistert von Fahim. Schwul ist er immer noch nicht, obwohl Fahim es redlich verdient hätte und auch das Zeug dazu. Wir besprechen in knappen Worten einige Zukunftspläne. Sie zielen, um die Fehler der Vergangenheit nicht zu wiederholen, diesmal auf die Eroberung des gesamten Sonnensystems ab.
The winner takes it eben all und wir zwei sind Gewinner! Auf unseren von Exzess, Depression und Trauer etwas zerbombten Schlitten – Fahim hatte im letzten Jahr einen Todesfall von nicht zu beschreibender Schrecklichkeit zu verarbeiten –, sausen wir immer noch schneidig im Schusskanal des echten, wilden Lebens durch multiple Realitäten, und wir, Freunde, wir:
- wir sind dem neuen Leben auf der Spur.

Link zur Wikiseite über Kurt Gödel

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