Dienstag, 24. Juni 2014

Brief aus Wien (18) Das Attentaterl

Das Attentaterl

„-chen und -lein machen alle Dinge klein.“ Auf diesen Satz wollte Frau Ponath, unsere Grundschullehrerin, hinaus. Wir rätselten herum. „Ein normal großer Vogel ist ein Vogel. Einen kleinen Vogel nennt man...?“ versuchte sie erneut, uns auf die Sprünge zu helfen. Sichtlich verzweifelt schon, denn an dem Tag war ein Herr von der Schulaufsicht da, um den Unterricht der Frau Ponath zu bewerten. Unsere Klasse war wohl angesteckt von ihrer Nervosität. Wir kamen partout nicht drauf, wo sie hinaus wollte. Das Diminutiv – vulgo: die Verkleinerungsform! - geht aber ja auf Austrobayerisch eh ganz anders. Ein kleiner Vogel heisst bei uns: Vogerl – und nicht Vögelchen oder Vöglein.
Ich wurde in Wien Opfer eines … Attentaterls.
Ich wartete vor dem Sendestudio von Radio Orange, in der Klosterneuburger Strasse, direkt hinter der Friedensbrücke. Die Sendung, in die ich geladen war, heisst „Wake up“ - und am Tag nach dem Mostvierteldesaster war das Aufwachen genau mein Problem. Eine Stunde live im Radio mit Restkater ist schließlich nicht ohne.
Ich war früh dran, der Moderator war noch nicht da. Auf der verzweifelten Suche nach einem Kaffee setzte ich mich an einen Tisch vor einem serbischen Straßenbistro. Man ignorierte mich beharrlich. Ich wechselte an einen Tisch vor einem türkischen Café. Man ignorierte mich erneut und die Zeit rückte vor und ich war immer noch unkaffeiniert.
Da kommt ein Mann um die 50 daher und spricht mich direkt als Prinz Chaos an. Das wundert mich ein wenig, denn zusätzlich zu meinen frisch gefärbten Haaren trage ich eine Mütze und eine Sonnenbrille. Es sollte an sich so einfach nicht sein, mich zu erkennen. Pfeifendeckel!
Der Mensch labert auch sofort los und zwar ist das eine ungute Mischung aus seiner Lebensgeschichte, wirren Thesen zur Weltpolitik und vermeintlichen ORF-Internas. Ich hake gleich ein und sage: „Du, wart amal: ich hab ein ganz anderes Problem: ich brauch einen Kaffee, dringend!“ Der Mensch weiß ein Café und einen Bäcker um die Ecke. Wir gehen hin.
Für einen doppelten Kaffee, der mir eher vorkommt wie ein halber, bezahle ich acht Euro! Acht Euro?!! Ich kann noch immer nicht glauben, dass ich das ohne Murren bezahlt habe. Aber ich war eben konditionell angeschlagen. Außerdem wurde ich von dem andern Menschen in Permanenz belabert.
Der Mensch zog dann auch noch diverse Blätter aus einer Plastikmappe: selbstverfasste, schreibmaschinengeschriebene Texte mit zahlreichen handschriftlichen Anmerkungen und einer Masse von Ausrufezeichen, Unterstreichungen, Großschreibungen und schrecklichen Kraftausdrücken.
Wie sich herausstellt, geht es um das, was der Mensch „Das ESC-Komplott“ nennt. Seine Schriften richten sich an die Moderatorin Barbara Stöckl und diverse Größen des ORF und der österreichischen Medienlandschaft. Der Sieg von Conchita Wurst beim Eurovision Songcontest ist demnach Ergebnis einer ungeheuerlichen, weltweiten Verschwörung der „NWO“ (= „Neue Weltordnung“) zur „Verschwulung der Menschheit“ – und diese Verschwörung richtet sich letztlich auch noch ganz genau und zielgerichtet gegen ihn, gegen ihn selbst, diesen von der ganzen Welt verfolgten Menschen um die 50.
Ob mir der aufgelauert hat vor dem Sender? Oder ist das ein Zufall? Er scheint in dem Viertel zu wohnen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass er mein Kommen in diese Frühstückssendung der Ankündigung des Senders entnommen hat.
Die Sendung beginnt in zehn Minuten. Ich reiße mich endlich los von diesem Menschen, der mir aber noch seine selbstverfassten Schriften aufnötigt.
Kurzum: ich absolviere die Sendung, meine Promo-Dame ist begeistert, der Moderator auch. Alles gut. Nachdem ich aber die Texte des Menschen über das Conchita-NWO-Komplott erneut in die Hand nehme, die ich als Artefakte des homophoben Irrsinns auszuwerten gedenke, bemerke ich plötzlich einen gigantischen Tintenfleck an meiner Hand.
Kreizkruzifix!!
Hat dieser unglückselige Mensch diese Blätter geronnenen Wirrsinns hektografiert oder mit einer Gutenbergpresse vervielfältigt oder mit Kartoffelstempeln?!
Ich reinige umständlich meine Hand, als ich bemerke, dass mein cremefarbenes Sacko einen Tintenfleck abgekommen hat. Ich könnte ausrasten!! Ich liebe dieses Sacko und es ist von meinem Vater und es kann doch nicht sein, dass mir irgendwelche Typen ungefragt ihren Geistesmüll aufdrängen, der am Ende dann noch zu erheblichen Schäden an Mensch und Mode führt!!!!!
Wütend denke ich an dieses Meditationsseminar der Osho-Leute zurück, an dem ich in Indien teilgenommen habe. Damals hat man mir meine PORSCHE-SONNENBRILLE geklaut! Man beklaut doch keine MEDITIERENDEN Menschen und schon gar nicht klaut man deren Porsche-Sonnenbrillen, was für eine ausgesuchte Gemeinheit!!!! EINE GEMEINHEIT, DIE SICH GEGEN MICH RICHTET, GEGEN MICH!! MICH!!!! MICH!!!!!
Meister Riedl, als ich ihm wiederum mit unzähligen verbalen Ausrufezeichen, Kraftausdrücken und Großschreibungen von diesem schier unerhörten Vorgang berichte, von jenem grauenvollen Attentat, dessen Opfer ich geworden sei und das man offensichtlich von langer Hand vorbereitet habe, … als ich mich also minutenlang theatralisch echauffiere und mein Unglück beklage und meinem ehemals cremefarbenen Sacko nachtrauere und über blutige mittelalterliche Strafen für den Attentäterich fantasiere, …. da meint der Riedl nur lapidar:
“Ijöö, früher, wie Dich keiner gekannt hat, ist Dir's auch nicht recht gewesen.“
Überhaupt, sei das gar kein Attentat gewesen, sondern allerbestenfalls nur:
ein Attentaterl.

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