###30. Juni: Doppelkonzert Prinz Chaos II. mit Cynthia Nickschas // Theater am Spittelberg // Wien###
Brief auf Wien (16) Gudrun Ensslin auf
der Flucht vor Kunigunde
Mit einem Lamento auf die Deutsche Bahn
öffentlich in Erscheinung zu treten, verbietet sich. Dass ich aber
mitten in Deutschland aufgrund einer heillos verspäteten
Regionalbahn den Anschluss nach Österreich verpasse, entbehrt der
historischen Ironie nicht.
Als ich am Wiener Westbahnhof dem Zug
entsteige, habe ich eine achteinhalbstündige Tortur hinter mir, die
nicht ohne Folgen für die Nachwelt geblieben ist. In meiner Empörung
hatte ich plötzlich einen karnevalistischen Stimmungshit im Hirn
gehabt: „So heilt die Zeit tatsächlich manche Wunde / Kunigunde /
noch eine Runde...“, geht das im Refrain. Ein grauenvolles Werk,
das umgehend verboten gehört. Ich schrieb es dennoch nieder. Auch
zur Strafe für jene, denen die literarische Qualität meiner
sonstigen Texte zu „anstrengend“ ist.
Dazu arbeitete ich im Zug an einem
längeren Artikel über „Diskurse der Gefährlichkeit“ und las,
anfangs etwas unwillig, dann mit wachsendem Vergnügen, im Büchlein
„Big Sur“ des Beatpoeten Jack Kerouac.
Am Bahnsteig holt mich der junge
Schauspieler ab. Er spielt derzeit in Molières „Don Juan“ den
Diener der Hauptperson und rettet ansonsten die Welt. Ich selber
rette die Welt schon länger, aber nicht in Wien. Wien muss sich ohne
meine Mithilfe erretten, denn ich habe mir für Österreich ein
striktes politisches Betätigungsverbot auferlegt.
Auferlegt? Gegönnt, wohl eher. Auf der
Mariahilferstrasse kommt König Arthur angeradelt und begleitet uns
einige Meter. Es ist weit nach Mitternacht als ich endlich in Palais
Riedl 1 einlaufe. Meister Riedl ist am Ort. Er erkennt meinen
existenziell bedrohten Zustand, wie es scheint und leistet mit einem
Grünen Veltliner erste Hilfe.
Transmutationen!
Der Riedl hat sich seit unserer
letztmaligen Begegnung einen opulenten Bart stehen lassen. Er schaut
damit 1:1 aus wie ein Theoretiker des Austromarxismus um die vorige
Jahrhundertwende, wie er noch dazu vor seinen die hohen Decken des
Altbaus bis obenhin ausfüllenden Bücherregalen sitzt und seine
Nickelbrille aufsetzt, um mir aus einem Werk über die
Architekturpolitik römischer Kaiser vorzulesen, das aufgeschlagen
auf seinem Arbeitstisch gelegen war. Ich spiele mit der Idee, einen
Song über „Die Bärte der alten Sozialdemokratie“ zu schreiben,
bezweifle aber, dass sich für diese Thematik eine relevante
Zuhörerschaft finden ließe.
Ich selber habe ebenfalls einen
Waschgang in der Chamäleonmaschine hinter mir. Ich habe neuerdings
industriegrau gefärbtes Haar mit grünen Einschlägen. Mein Hofnarr
findet, ich sähe aus als sei ich in einen Pool mit
Pfefferminzschnaps gestürzt und anschließend mit einem fauligen
Fisch durchgewatscht worden. Ich selber finde, ich sehe aus wie
Julian Assange und zwar: hervorragend! Eine Facebook-Freundin
vergleicht mich mit Billy Idol, also: mit dem Billy Idol der 80er
Jahre!
Der Riedl selber hat mich sogar, wie
sich herausstellt, minutenlang verwechselt. Er hat ursprünglich
gemeint, Gudrun Ensslin auf der Flucht vor seiner Haustür stehen zu
haben, die er prompt einließ - bis ihm bei meiner Beichte über den
Stimmungshit mit Kunigunde leise Zweifel kamen und er dann doch mich
in mir erkannte...
So oder so ähnlich ist es gewesen.
Das wird zumindest behauptet.
Erwiesen ist, dass ich nicht alt wurde
in dieser Nacht, sondern mich alsbald zur Ruhe legte. Für den Morgen
standen zwei Termine an: einer um 9:00 Uhr und einer um 9:45 Uhr. Ich
schrieb noch ein paar SMS hin und her mit Andreas Baader und Brigitte
Mohnhaupt. Dann entschlummerte ich in Morpheus Armen - im Ohr eine
himmlisch inspirierte Melodie, glöckerlklar gesungen von schneeweiß
gewandeten, barocken Engelschören am Wiener Firmament: „Und so
heilt die Zeit tatsächlich manche Wunde / Kunigunde / noch eine
Runde...“
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