Sonntag, 22. Juni 2014

Brief auf Wien (16) Gudrun Ensslin auf der Flucht vor Kunigunde

###30. Juni: Doppelkonzert Prinz Chaos II. mit Cynthia Nickschas // Theater am Spittelberg // Wien###

Brief auf Wien (16) Gudrun Ensslin auf der Flucht vor Kunigunde

Mit einem Lamento auf die Deutsche Bahn öffentlich in Erscheinung zu treten, verbietet sich. Dass ich aber mitten in Deutschland aufgrund einer heillos verspäteten Regionalbahn den Anschluss nach Österreich verpasse, entbehrt der historischen Ironie nicht.
Als ich am Wiener Westbahnhof dem Zug entsteige, habe ich eine achteinhalbstündige Tortur hinter mir, die nicht ohne Folgen für die Nachwelt geblieben ist. In meiner Empörung hatte ich plötzlich einen karnevalistischen Stimmungshit im Hirn gehabt: „So heilt die Zeit tatsächlich manche Wunde / Kunigunde / noch eine Runde...“, geht das im Refrain. Ein grauenvolles Werk, das umgehend verboten gehört. Ich schrieb es dennoch nieder. Auch zur Strafe für jene, denen die literarische Qualität meiner sonstigen Texte zu „anstrengend“ ist.
Dazu arbeitete ich im Zug an einem längeren Artikel über „Diskurse der Gefährlichkeit“ und las, anfangs etwas unwillig, dann mit wachsendem Vergnügen, im Büchlein „Big Sur“ des Beatpoeten Jack Kerouac.
Am Bahnsteig holt mich der junge Schauspieler ab. Er spielt derzeit in Molières „Don Juan“ den Diener der Hauptperson und rettet ansonsten die Welt. Ich selber rette die Welt schon länger, aber nicht in Wien. Wien muss sich ohne meine Mithilfe erretten, denn ich habe mir für Österreich ein striktes politisches Betätigungsverbot auferlegt.
Auferlegt? Gegönnt, wohl eher. Auf der Mariahilferstrasse kommt König Arthur angeradelt und begleitet uns einige Meter. Es ist weit nach Mitternacht als ich endlich in Palais Riedl 1 einlaufe. Meister Riedl ist am Ort. Er erkennt meinen existenziell bedrohten Zustand, wie es scheint und leistet mit einem Grünen Veltliner erste Hilfe.
Transmutationen!
Der Riedl hat sich seit unserer letztmaligen Begegnung einen opulenten Bart stehen lassen. Er schaut damit 1:1 aus wie ein Theoretiker des Austromarxismus um die vorige Jahrhundertwende, wie er noch dazu vor seinen die hohen Decken des Altbaus bis obenhin ausfüllenden Bücherregalen sitzt und seine Nickelbrille aufsetzt, um mir aus einem Werk über die Architekturpolitik römischer Kaiser vorzulesen, das aufgeschlagen auf seinem Arbeitstisch gelegen war. Ich spiele mit der Idee, einen Song über „Die Bärte der alten Sozialdemokratie“ zu schreiben, bezweifle aber, dass sich für diese Thematik eine relevante Zuhörerschaft finden ließe.
Ich selber habe ebenfalls einen Waschgang in der Chamäleonmaschine hinter mir. Ich habe neuerdings industriegrau gefärbtes Haar mit grünen Einschlägen. Mein Hofnarr findet, ich sähe aus als sei ich in einen Pool mit Pfefferminzschnaps gestürzt und anschließend mit einem fauligen Fisch durchgewatscht worden. Ich selber finde, ich sehe aus wie Julian Assange und zwar: hervorragend! Eine Facebook-Freundin vergleicht mich mit Billy Idol, also: mit dem Billy Idol der 80er Jahre!
Der Riedl selber hat mich sogar, wie sich herausstellt, minutenlang verwechselt. Er hat ursprünglich gemeint, Gudrun Ensslin auf der Flucht vor seiner Haustür stehen zu haben, die er prompt einließ - bis ihm bei meiner Beichte über den Stimmungshit mit Kunigunde leise Zweifel kamen und er dann doch mich in mir erkannte...
So oder so ähnlich ist es gewesen.
Das wird zumindest behauptet.

Erwiesen ist, dass ich nicht alt wurde in dieser Nacht, sondern mich alsbald zur Ruhe legte. Für den Morgen standen zwei Termine an: einer um 9:00 Uhr und einer um 9:45 Uhr. Ich schrieb noch ein paar SMS hin und her mit Andreas Baader und Brigitte Mohnhaupt. Dann entschlummerte ich in Morpheus Armen - im Ohr eine himmlisch inspirierte Melodie, glöckerlklar gesungen von schneeweiß gewandeten, barocken Engelschören am Wiener Firmament: „Und so heilt die Zeit tatsächlich manche Wunde / Kunigunde / noch eine Runde...“

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