Mittwoch, 12. November 2014

Brief aus Wien (19) Sir Roland has left the planet



Ich selbst war überrascht, als ich mich plötzlich im Fernbus Richtung Wien wiederfand. Zu viele Tausend Kilometer hatte ich in den vorangehenden Wochen auf Autobahnen und in Zügen heruntergerissen. Die Vorstellung, erneut aufzubrechen, war mir unerträglich.
Unerträglicher erwies sich die Vorstellung, Sir Roland Kollowatsch die letzte Ehre – und Meister Riedl beim Abschied von seinem Lebensgefährten meinen Beistand zu versagen. So brach ich doch auf. Mit dem Fernbus. 200 Seiten „Krieg und Frieden“ lesend, auf der Hinfahrt. Und 200 auf der Rückfahrt.
Sir Roland, den ich kaum zwei Jahre gekannt habe, ist mir in erstaunlicher Weise ans Herz gewachsen. Von der Menschheitsgeissel Krebs bereits sichtlich gezeichnet, war er mir eine Brücke zu versinkenden Welten gewesen, die mir lieb und wert wurden.
Nach meinem ersten Besuch in jenem Wien, das mir König Arthur und Meister Riedl seither erschlossen haben, hatte mir Sir Roland eine lange Email geschrieben. Kontrastierend mit meinem liedgewordenen Reisebericht, erzählte er darin von seinen schwulen Erlebnisse im Marokko der 60er und 70er Jahre. Seither haben wir gelegentlich geschrieben und wenn ich in Wien war, lauschte ich gierig den Geschichten und Anekdoten, die dieser durch und durch literarische Mensch so fabelhaft zu erzählen wusste. Und er wusste viel, denn er war ein Renaissancemensch, ein Mann von polymathischem Wissen, das Gegenteil des Fachidioten.
Was für ein Kulturmensch! Über Begebenheiten rund um die Wiener Staatsoper erzählte Sir Roland so vertraut, wie andere vom Pausenhof ihrer Grundschule. Die Dirigentenlegenden Peter Zadek und Leonard Bernstein waren ihm freundschaftlich verbunden gewesen, ebenso war er gut bekannt mit dem Friedensforscher Robert Jungk und dessen Frau und vielen anderen Größen des Geisteslebens. Für den legendären SPÖ-Bundeskanzler Bruno Kreisky war Sir Roland nicht nur als Redenschreiber tätig gewesen, sondern er hat auch die neue Kulturpolitik der 70er Jahre mitentwickelt, in deren Folge zum Beispiel Operninszenierungen live im ORF ausgestrahlt wurden, um Hochkultur auch dem breiten Volk zugänglich zu machen.
Ich stehe nunmehr neben König Arthur in der Straßenbahnlinie 6. Diese Linie verfügt über gleich vier Haltestellen namens Zentralfriedhof: Zentralfriedhof Tor 1, Tor 2, Tor 3 und Tor 4. Wir steigen bei Tor 2 aus und gehen aber auf die gegenüberliegende Straßenseite. Dort steht Schloss Neugebäude, ein nie vollendetes Habsburger Bauprojekt. Ein Jagdschloss sollte das werden. Seit 1922 ist in einem Teil des Gebäudes die Wiener Feuerhalle untergebracht.
Die Christsozialen und die Katholiken hatten das Projekt Feuerhalle seinerzeit kulturkämpferisch zu verhindern gesucht. Denn die Feuerbestattung galt als zutiefst unchristlich. Sie war vielmehr die bevorzugte Bestattungsform der Arbeiter- und Freidenkerbewegung. Endlich setzte Jakob Reumann, der erste sozialdemokratische Bürgermeister Wiens, den Bau durch und ließ sich drei Jahre nach der Eröffnung selbst dort einäschern.
Heute also kam die Reihe an Sir Roland, der ebenfalls ein Freidenker gewesen ist - und ein Rebell, wenn es sein musste, auch. Väter- wie mütterlicherseits relevanten Adelsgeschlechtern entstammend, ist er ein Prachtexemplar jener Helden des schwulen Wien gewesen, die ich im Kreise um Arthur und Stefan anzutreffen die fortgesetzte Ehre habe. Die erste Homosexuelleninitiative Österreichs: Sir Roland hat sie mitbegründet.
Als er mir jedoch erklären wollte, wie die moralischen Abgründe der von mir vergötterten Stadt Wien gelagert seien, erzählte er von der Suche nach einem neuen Dienstsitz für den Österreichischen Bundespräsidenten. Sämtliche in Frage kommenden Objekte, die die Verwaltung auf einer langen Vorschlagsliste zusammengestellt habe, seien ausnahmslos „arisiertes“ Eigentum gewesen – von den Nazis enteigneter, jüdischer Besitz! Sir Roland war nicht der Typ, solcherlei antisemitische Niederträchtigkeiten zu verzeihen.
Wir sind etwas zu früh angelangt. Außer Arthur, mir und den Bediensteten der Feuerhalle ist noch niemand da, aber Sir Roland hätten die feschen Burschen in ihren schwarzen Uniformen sicherlich gefreut. Nach und nach treffen dann die Trauergäste ein, von denen ich die meisten durch die illustren Sonntagssoireen in Palais Riedl 2 bereits kennengelernt habe. Schwules Volk dreier Generationen. Die Familie Riedl. Und einige hinreissende Damen der Gesellschaft, wie die Verlagsangestellte, die jetzt eine Trauerrede für Sir Roland beisteuert, der über Jahrzehnte hinweg führend im Klett Cotta Verlag tätig gewesen war. Mit großem Sportsgeist habe er das lange Ringen darum angeleitet, die Pons-Lexika durchzusetzen gegen die Marktdominanz der gelben Langenscheidts. Andere rühmen des Verstorbenen Gelassenheit, seine Kochkünste und seinen Humanismus.
Später werden wir uns beim Leichenschmaus im Palais Riedl bei Weißwein und … noch mehr Weißwein lange und prächtig unterhalten. Wir werden eines Menschen gedenken, der durch Charakter und Geist bestach, der Liebenswürdigkeit und Prinzipienfestigkeit in gleichen Maßen besaß – und einen Lebensgefährten, dessen Treue und Liebe ihn bis zum Schluss, bis zum allerletzten Atemzug begleitete.
Was für ein Privileg, denke ich mir, für diese Generation schwuler Männer, für jene Pioniereinheiten der Armee der Liebe: in den Armen des Freundes sterben zu dürfen! Aber natürlich bleibt dann auch einer übrig und es ist gut zu sehen, dass viele und viele unserem Freund Stefan Riedl zur Seite stehen in diesen Tagen.
Soweit aber sind wir noch nicht. Noch sitzen wir in der Feuerhalle und jetzt spielen sie das Lied von der kleinen Zahnradbahn. Die wird außer Dienst gestellt, in diesem hinreissenden Couplet und kurz vor dem zweiten Refrain setzen sich jetzt die Zahnräder unterhalb des aufgebahrten Sarges in Bewegung. Eine Klappe öffnet sich und der Sarg versinkt im Boden, um den Flammen entgegenzufahren.
Leben können sie, in Wien, wie ich an dieser Stelle oft genug beschrieben haben. Aber Wien, was das größte Kompliment sein muss: Wien versteht zu sterben.
Servus Roland, und bis bald: - Du großer, großer Menschenfreund.

<<Die alte Zahnradbahn gehört längst zum alten Eisen
die jungen Leute woll'n heut' nicht mehr mit ihr reisen
sie träumt vom schönen Wald und schaut auch mal zum Gipfel rauf
und fährt im Geist noch einmal langsam langsam bis hinauf


Auf ihrer letzten Fahrt träumt sie noch von der alten Zeit
die längst vorbei ist und nie wieder kehrt in Ewigkeit
und kleine Blümel winken, einmal kommt a jeder dran
dann fahrts im Himmel rauf die alte Zahnradbahn>>


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