Stets geachtete Obertanen!
Der 1.
Mai in Wien gibt mir Gelegenheit, zuverlässig an den Beginn des 20.
Jahrhunderts zu wechseln: ich sehe mir den Mai-Aufmarsch der SPÖ an!
Vor dem
Rathaus ist eine Bühne gigantischer Ausmaße aufgebaut, auf welcher
die Honoratioren der Sozialdemokratie mit roten Tüchern winkend und
aus allen Poren in der Frühlingssonne schwitzend den Vorbeimarsch
der Basis abnehmen. Immer wieder groß auf der Videoleinwand: der
Parteivorsitzende und Bundeskanzler Faymann und der sozialdemokratische Bürgermeister
Wiens, Michael Häupl. Tradition und Gegenwart der Sozialdemokratie:
Die drei Pfeile des antifaschistischen Schutzbunds prangen auf einem
großen Hochglanztransparent an der Bühne. Ein anderes liest sich:
„Wien lieben! Wien leben!“
Eine
Blaskapelle zieht vorbei. Sie spielt: „Die Arbeiter von Wien“.
Der Moderator verkündigt den Vorbeizug der SPÖ-Sektion aus
Ottakring: „angeführt von den Mandataren und Mandatarinnen“. Es
folgen die Kurden. Der Moderator spricht über deren lange
Unterdrückung, als die Fahnen mit dem Konterfei von Apo Öcallan
vorbeiflattern. Danach rennt eine Arbeitsloseninitiative an der Bühne
vorbei. Daraufhin eine Blaskapelle, sie spielt: „Die Arbeiter von
Wien“.
Die
Abordnung der SPÖ aus dem Bezirk Penzing wird angeleitet von ihrem
„traditionellen roten Bummelzug“ und die Roten Falken aus Penzing
„haben eine Vision. Von Penzing aus die Welt zu einem friedlicheren
und gerechteren Ort zu machen.“
Visionen
hat es auch in Wien Margareten: „Europa bewegt Margareten –
Margareten bewegt Europa“ erläutert der Moderator. Die SPD
Simmering hat einen neuen Sportplatz durchgesetzt. Ein
vorbeimarschierender Kinder- und Jugendchor singt: „Die Arbeiter
von Wien“
Auf
Transparenten: schlimme, schlimme Wortspiele! „NEUropa schaffen!“
oder „Privatisierungen sind dumn – bumm!“ Der Moderator spricht
von „70 Jahren Frieden“, die wir in Europa erleben haben dürfen.
Mei, Serbien wird halt gerne verdrängt in Österreich...
Auf den
Stufen des Burgtheaters halten Männer ein Transparent hoch: „Väter
haben Rechte“ steht darauf. Ein Grüppchen sozialdemokratischer
Frauen steht davor und ruft ausdauernd: „Haut ab! Haut ab! Haut
ab!“ Am Bücherstand einer trotzkistischen Weltpartei erwerbe ich
Karl Marx: Der Bürgerkrieg in Frankreich. Habe ich natürlich
Zuhause in den gesammelten Werken, aber für Leute mit kaputten
Rücken sind die blauen Bände kaum transportabel.
Auf
einem offenen Lastwagen fährt eine Band im Aufmarsch mit. Als sie
sich der großen Bühne nähert, beginnt sie das Kampflied: „Der
heimliche Aufmarsch“: „Es geht durch die Welt ein Geflüster /
Arbeiter hörst Du es nicht / Das sind die Stimmen der Kriegsminister
/ Arbeiter, hörst Du sie nicht? / Es flüstern die Kohle- und
Stahlproduzenten / Es flüstert die chemische Kriegsproduktion / Es
flüstert von allen Kontinenten: / Mobilmachung gegen die ...“
Der
Moderator auf der Bühne kennt scheint's immerhin den Text, denn
bevor das Wort „Sowjetunion“ gesungen wird, geht er mit einer
sehr freundlichen, belanglosen Ansage resolut dazwischen.
„Eine
Bewegung mit solchen Blaskapellen muss siegen!“ sage ich feierlich,
als ich in die Lenaugasse heimkehre. Sir Roland erklärt, die
Blaskapelle der Brigittenauer Straßenbahner sei die vorzüglichste
aller Blaskapellen und musikalisch gesehen sowieso die einzigen, die
was könnten.
Ich
sinniere. Natürlich ist nichts naheliegender, als über diesen
Maiaufmarsch zu spotten. Selbst der Berliner CSD wirkt politisch
bedrohlich im Vergleich. Mir persönlich haben vor der Empore der
Parteigrößen vorbeifahrende Artilleriegeschütze und
Kavallerieeinheiten gefehlt. Nur sage ich mir dann auch: was, wenn es
alle diese Organisationen und ihre engagierten, harmlosen Menschen
nicht mehr geben würde? Die Roten Falken aus Penzing, die Europa
bewegenden Margaretener, die Arbeitsloseninitiative und die Kurden
und die Blaskapellen? Die Welt wäre definitiv kein besserer Ort. Und
so wollen wir versöhnlich bleiben.
Ich bin
dennoch froh, anschließend mit König Artur aufs Fahrrad zu steigen.
Auf der Donauinsel soll es eine Goaparty geben.
Die
Donauinsel ist ein städtebaulicher Geniestreich! Die Wiener haben
das Problem ewig versumpften Geländes einfach gelöst, indem sie
eine fünf Kilometer lange Insel mitten in den Fluss und in zentraler
Innenstadtlage gebaut haben.
Die
Donauinsel hat Wien endgültig zur lebenswertesten Stadt der Welt
gemacht und die Goaparty ist genau, was ich jetzt brauche. In
Deutschland werde ich von einigen Leuten gerade zum „Querfrontler“
umdefiniert. Ich würde darüber sehr lachen, wenn ich es lustig
fände.
Ich
vermute, dass man das Phänomen der Montagsmahnwachen wahrscheinlich
auch nicht verstehen kann, wenn man von der elektronischen Subkultur
der letzten 20 Jahren nichts mitbekommen hat. Sind diese Leute hier
auf der Goaparty links? Sind sie rechts? Sind sie:
„Verschwörungstheoretiker“?
Vermutlich
glauben hier 3,6% mehr als im Bevölkerungsdurchschnitt, dass die
Pyramiden von Außerirdischen gebaut wurden. Sicher, das liegt auch
am LSD, aber es ist wohl keine orignär „rechte“ Meinung, an
irdische Bauprojekte Außerirdischer zu glauben.
Entscheidender
scheint mir eine Art des Feierns und des Miteinanders zu sein, die
sich in dieser Szene entwickelt und gehalten hat. Ein sehr
liebevoller Umgang miteinander; ein selbstverständlicher
Grundkonsens, dass hier jeder und jede sein darf, was es möchte;
diese federleichte Schwingung, die zwischen den Schlägen des
Bassbeats unsere Körper durchzittert; das Leuchten in den Augen; die
Leichtigkeit der Kommunikation mit „fremden“ Menschen, die alles
sind, nur nicht fremd, weil sie lächeln. Und dazu eine Schönheit
der Körper, die vom Tanzen kommt und vom Yoga, von langen Reisen mit
dem Rucksack - und von der vegetarischen Ernährung, die hier viele,
wenn auch sicherlich nicht alle, bevorzugen.
Ich
sitze an der Reling eines Hausboots und schaue auf die Donau als ich
dieses alles denke. Jedoch stört etwas meine seelenvolle Ruhe,
dringt lärmend vor in meine Aufmerksamkeit. Ich wende mich herum und
da ist ein Tisch voller Jungs. Alle trinken Dosenbier. Alle haben
schwarze Sonnenbrillen auf. Einer hat ein Tattoo mit einem eisernen
Kreuz. Die einzige Frau am Tisch ist es, die mich aufgestöbert hat
in meiner gedankenvollen Stille: sie redet laut und zeternd und
scheint sich selbst dabei witzig und selbstbewusst zu finden, während
sie weder das eine noch das andere ist.
„Wer
ist hier links? Wer ist hier rechts?“ frage ich mich erneut. Sind
das da verkappte Nazis? Traue ich ihnen zu, Menschen zu verprügeln,
zu töten oder in Viehwagons zu verfrachten? Ehrlich gesagt: ich
traue so etwas keinem Menschen zu, würde aber auch bei niemandem
ausschließen, dass Entwicklungen dazu führen könnten, ihn oder sie
zu einer solchen Bestie zu machen – wie ich auch die Menschwerdung
faschistischer Bestien nicht ausschließen würde, denn: Menschen
verändern sich und wer will vorhersagen, wohin?
Eventuell
kann man es positiv beeinflussen, wenn schon nicht vorhersagen.
Dieser Tisch aber macht mir Sorgen. Wie eine Wagenburg sitzen diese
groben Typen um den Biertisch, bilden eine klare, harte Einheit
inmitten eines Festes, das solcherlei Begrenzungen an sich
zuverlässig auflösen sollte.
Dann
aber geschieht etwas Interessantes: einer dieser Typen rollt einen
Joint. Gleichzeitig holt mich Artur aus der Düsternis meiner
Gedanken zurück und schlägt vor, uns auf die Liegewiese zu begeben.
Ich trinke noch aus, am Nebentisch geht der Joint herum. Und mit
einem Male entspannt sich die Lage. Die hysterisch zeternde Dame am
Nebentisch setzt sich gemütlicher hin, einer nimmt sie in den Arm
und sie hört auf zu zetern. Ein junger Typ, sympathischer
Elektrohippie mit Rastas und sehr dunkler Haut, tritt an den Tisch
und ist offensichtlich ein Freund von dem Typen mit dem
Eisernkreuz-Tattoo – Menschenskinder, ist die Welt kompliziert!
Also, die Welt selber vielleicht nicht, aber die genaue Einteilung
von Menschenwesen in klare Kategorien ist echt mühselig in letzter
Zeit...
Ich
tanze ein wenig. Ich hänge die Füße in die Donau. Ich tanze
nochmal. Ich lungere auf der Liegewiese in der Sonne herum. Es geht
mir besser. Es gut mir gut, sogar.
Später
fahren wir auf fantastischen Fahrradstrassen zurück zu Arturs
Wohnung. Dort kocht er mir Reis mit dem geliebten chinesischen
Wasserspinat. Wir sehen uns „Wiener Brut“ an, einen hinreissenden
Film von und über die Schwulenszene Wiens in den 80er Jahren. Artur
spielt die Hauptrolle und sieht einfach sensationell aus; häßlich
ist er ja bis heute nicht.
Später
gehen wir an den Prater. Erneut liegen wir im Gras und schauen uns
das traditionell fantastischste Wiener Feuerwerk des Jahres an. „It
is such a perfect day / I'm glad I spent it with you...“ singe ich
vor mich hin. Artur, mein treuer Engel über Wien, hat mich aus den
Tiefen meiner deutschen Misere gerettet: der perfekte 1. Mai!
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