Donnerstag, 1. Mai 2014

Brief aus Wien (13) Gescheiterte Flucht ins 18. Jahrhundert

Vielgeliebte Obertanen!
Keine zwei Stunden nach meiner spontanen Rede bei der Montagsmahnwache, sitze ich in der Königlich-Chaotischen Hofkutsche japanischer Fabrikation. Ich verlasse die Stadt des Feuers, Berlin, Berlin: geboren im Zeichen des Widders, vermaledeiter Moloch, wo ich auf ewig gefangen sein werde in der Zeitschleife meiner berufsrevolutionären Jugend.
Mein Pianist lenkt dankenswerterweise die Gäule. Dieser Mensch ist sehr aufgehoben in der Welt der feinen Töne und der Musiktheorie. Politik langweilt ihn tödlich. Von diesen ominösen Mahnwachen hat er bisher nur gehört, dass sie irgendwie "von Nazis“ organisiert werden... Aha. Und da habe ich gesprochen? Ich danke ihm für seine Contenance: er verlangt nicht, dass ich ihm das jetzt im Einzelnen erkläre... what a friggin' mess!
Durch eine nebelige Nacht gelangen wir ins fränkische Igelsdorf. Dort … igele ich mich ein. Kaum Kommunikation. Nur Runterkommen, Schlaf, Unruhe, Schlaf, Nachdenken, Schlaf. Dass ich zwischendrin mitansehen muss, wie meine Bayern mit 0:4 zuhause gegen Real Madrid aus der Champions League fliegen, rundet meine Stimmung ab. Es folgt „Die Anstalt“. Konstantin brilliert mit einem Meisterstück friedenspolitischer Bewegungsdiplomatie. Mir ist sofort klar, dass es auf allen Seiten haufenweise Leute geben wird, die ihn trotzdem in die eine oder andere Richtung dringend missverstehen wollen werden.
Tags drauf sitze ich eingeklemmt zwischen drei Musiker, zwei Gitarren, ein E-Piano und einen Kontrabass im Auto Richtung Wien. Wieder ein paar Hundert Kilometer herunterreißen. Langsam fühle ich mich wie Talleyrand auf seiner Höllenfahrt quer durch Europa, nach Napoleons Niederlage bei Waterloo. Aber wer ist Napoleon, wer der neue Bourbonen-König und wo, verdammt, bleibt Blücher?
Noch besser: Ich habe vor lauter Politisieren die Unterkunft für meine Musiker in Wien versemmelt. Ich hätte ja bloß rechtzeitig Bescheid sagen müssen, aber jetzt hat Freund Schlagitweit die Wohnung anderweitig vermietet. Ferdinand, mein Kontrabassist und seine sowohl malende als auch atonal komponierende Freundin haben heute noch einen Auftritt in Wien. Nein, nicht in Wien, erfahre ich jetzt: in Tulln, vor Wien.
Immerhin, in Tulln habe ich Verwandtschaft, die ich lange besuchen wollte. Einen sehr, sehr entfernten Zweig unseres Künstlerklans, mit dem wir unnennbare Zeiten keinen Kontakt hatten. Meine Schwester hat diese Tullner Prosels aus dem Internet gefischt. Wir sind im 4. Grad cousiniert, heißt es.
Wir kommen hin und die Malerin stellt fest, dass das Haus ihres Bekannten – er hat ein Programm entwickelt, das elektronische Malerei in Musik umsetzt oder etwas in der Art – direkt neben dem Haus meiner Verwandtschaft liegt. Fängt die Chaosenergie endlich an, sich ein wenig zu ordnen?
„Die müssen mit Dir verwandt sein...“ sagt Ferdinand als wir vor dem Haus der Tullner Prosels stehen. In meiner Familie gibt es eine hartnäckige Tendenz zu Schlössern und alten Kästen aller Art. Und hinter dem Mäuerchen sehen wir jetzt auf ein Anwesen, das einen klösterlichen Eindruck macht.
Im Garten steht ein fantastischer Magnolienbaum, eine rotblättrige japanische Kirsche und ein Baum mit ahornzwickerartigen Fruchthülsen, der eindeutig kein Ahorn ist. Maud und Andi sitzen auf dem Balkon. Direkt hinter dem Haus fliesst die Donau entlang.
„Die müssen wirklich mit Dir verwandt sein...“ sagt Ferdinand erneut. Alte Möbel in einem alten Haus. Tatsächlich war das hier einmal Teil eines Klosters. Im Wohnzimmer sind Stühle und Notenständer aufgebaut. Maud war ihr Leben lang Musiklehrerin, liebt alte Musik und hat ein hochwertiges Blockflötenensemble. Der Sohn ist Bassist, lebt in Wien und spielte neulich mit Udo Lindenberg. Andi, der mir Kaffee eingießt, spielt Klavier und ist ansonsten pensionierter Psychotherapeut: na, dann hat er ja jetzt Zeit, die Familie zu therapieren, sage ich mir erleichtert.
Sascha, die Malerin, kommt vom Haus ihres Bekannten zurück – dem mit dem Audioprogramm für musizierende Maler. Der heisst Seppi – und ist der Neffe von Andi und Maud!
Ich finde mein Vertrauen wieder zur ordnenden Kraft meines königlichen Chaos. Bald darauf bieten Maud und Andi meinen Musikern für diese Nacht ihr Gästezimmer an. Zeitgleich erreicht mich ein Rückruf aus Wien. Dort habe ich nun auch für meinen Pianisten ein Zimmer aufgetan. So hat sich alles hübsch geklärt.
Allein gehe ich zum Bahnhof und fahre nach Wien, denn ich habe noch einen unaufschiebbaren Interviewtermin im Interconti. Der Journalist hat wenige Tage zuvor einen Skandal ausgelöst, weil er Jan Delay zitiert hat, der Heino als alte Nazi bezeichnet hat. Jetzt noch ein Presseskandal um meine Person in Österreich? Na, merci... ich sage nur äußerst unverfängliche Dinge!
Kurz vor 23 Uhr schelle ich im Palais Riedl 1 und begrüße Meister Riedl himself mit den Worten: „Freund Riedl! Auf dem Transportmittel meines eigenen Zahnfleisches reisend, erbitte ich ein Nachtasyl...“ Wir umarmen uns.
In der Küche sitzt Sir Roland und schaut sich die Verfilmung des Musicals „Hair“ an. Ich bin überrascht, wie wenig verstaubt dieses Werk von 1979 filmisch wirkt. Aber bevor diese ganzen hübschen Jungs kahlgeschoren ins Flugzeug steigen, um in Vietnam zu töten und getötet zu werden, verlasse ich fluchtartig die Küche.
Im Wohnzimmer setze ich mich auf den Diwan und breche den Versuch, Freund Riedl meine Situation in Deutschland zu erläutern aber sogleich ab nach den Worten „Stefan, ich bin umkämpft und fühle mich zerrissen, wie das Kind im kaukasischen Kreidekreis...“
Wir hören Radio Stefansdom.
Wir reden über Stefans Dekorationsentwürfe für den bevorstehenden Live Ball.
Wir vergessen den Krieg, umgeben von alten Büchern, gigantischen Kandelabern und den großformatigen homoerotischen Gemälden aus des Meisters eigener Hand. Wir sinken zurück ins 18. Jahrhundert, die Katzen streichen mir ums Bein, Der Riedl bringt mir einen frischen Weißwein … dann ziehe ich mich zurück, um endgültig Ruhe zu finden.

Stattdessen finde ich auf meinem Smartphone Emails und Nachrichten vor, die einer sofortigen, nächtlichen Beantwortung bedürfen. Unruhig mich wälzend liege ich lange wach: meine Flucht ins 18. Jahrhundert ist dieses Mal kläglich gescheitert, so dämmert mir. Draußen höre ich im Morgengrauen eine Blaskapelle. Sie spielt: „Die Arbeiter von Wien“. Es ist der 1. Mai.

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