Vielgeliebte Obertanen!
Keine zwei Stunden nach meiner
spontanen Rede bei der Montagsmahnwache, sitze ich in der
Königlich-Chaotischen Hofkutsche japanischer Fabrikation. Ich
verlasse die Stadt des Feuers, Berlin, Berlin: geboren im Zeichen des
Widders, vermaledeiter Moloch, wo ich auf ewig gefangen sein werde in
der Zeitschleife meiner berufsrevolutionären Jugend.
Mein Pianist lenkt dankenswerterweise
die Gäule. Dieser Mensch ist sehr aufgehoben in der Welt der feinen
Töne und der Musiktheorie. Politik langweilt ihn tödlich. Von
diesen ominösen Mahnwachen hat er bisher nur gehört, dass sie irgendwie "von Nazis“ organisiert werden... Aha. Und da habe ich
gesprochen? Ich danke ihm für seine Contenance: er verlangt nicht,
dass ich ihm das jetzt im Einzelnen erkläre... what a friggin' mess!
Durch eine nebelige Nacht gelangen wir
ins fränkische Igelsdorf. Dort … igele ich mich ein. Kaum
Kommunikation. Nur Runterkommen, Schlaf, Unruhe, Schlaf, Nachdenken,
Schlaf. Dass ich zwischendrin mitansehen muss, wie meine Bayern mit
0:4 zuhause gegen Real Madrid aus der Champions League fliegen,
rundet meine Stimmung ab. Es folgt „Die Anstalt“. Konstantin
brilliert mit einem Meisterstück friedenspolitischer
Bewegungsdiplomatie. Mir ist sofort klar, dass es auf allen Seiten
haufenweise Leute geben wird, die ihn trotzdem in die eine oder
andere Richtung dringend missverstehen wollen werden.
Tags drauf sitze ich eingeklemmt
zwischen drei Musiker, zwei Gitarren, ein E-Piano und einen
Kontrabass im Auto Richtung Wien. Wieder ein paar Hundert Kilometer
herunterreißen. Langsam fühle ich mich wie Talleyrand auf seiner
Höllenfahrt quer durch Europa, nach Napoleons Niederlage bei
Waterloo. Aber wer ist Napoleon, wer der neue Bourbonen-König und
wo, verdammt, bleibt Blücher?
Noch besser: Ich habe vor lauter
Politisieren die Unterkunft für meine Musiker in Wien versemmelt.
Ich hätte ja bloß rechtzeitig Bescheid sagen müssen, aber jetzt
hat Freund Schlagitweit die Wohnung anderweitig vermietet. Ferdinand,
mein Kontrabassist und seine sowohl malende als auch atonal
komponierende Freundin haben heute noch einen Auftritt in Wien. Nein,
nicht in Wien, erfahre ich jetzt: in Tulln, vor Wien.
Immerhin, in Tulln habe ich
Verwandtschaft, die ich lange besuchen wollte. Einen sehr, sehr
entfernten Zweig unseres Künstlerklans, mit dem wir unnennbare
Zeiten keinen Kontakt hatten. Meine Schwester hat diese Tullner
Prosels aus dem Internet gefischt. Wir sind im 4. Grad cousiniert,
heißt es.
Wir kommen hin und die Malerin stellt
fest, dass das Haus ihres Bekannten – er hat ein Programm
entwickelt, das elektronische Malerei in Musik umsetzt oder etwas in
der Art – direkt neben dem Haus meiner Verwandtschaft liegt. Fängt
die Chaosenergie endlich an, sich ein wenig zu ordnen?
„Die müssen mit Dir verwandt
sein...“ sagt Ferdinand als wir vor dem Haus der Tullner Prosels
stehen. In meiner Familie gibt es eine hartnäckige Tendenz zu
Schlössern und alten Kästen aller Art. Und hinter dem Mäuerchen
sehen wir jetzt auf ein Anwesen, das einen klösterlichen Eindruck
macht.
Im Garten steht ein fantastischer
Magnolienbaum, eine rotblättrige japanische Kirsche und ein Baum mit
ahornzwickerartigen Fruchthülsen, der eindeutig kein Ahorn ist.
Maud und Andi sitzen auf dem Balkon. Direkt hinter dem Haus fliesst
die Donau entlang.
„Die müssen wirklich mit Dir
verwandt sein...“ sagt Ferdinand erneut. Alte Möbel in einem alten
Haus. Tatsächlich war das hier einmal Teil eines Klosters. Im
Wohnzimmer sind Stühle und Notenständer aufgebaut. Maud war ihr
Leben lang Musiklehrerin, liebt alte Musik und hat ein hochwertiges
Blockflötenensemble. Der Sohn ist Bassist, lebt in Wien und spielte
neulich mit Udo Lindenberg. Andi, der mir Kaffee eingießt, spielt
Klavier und ist ansonsten pensionierter Psychotherapeut: na, dann hat
er ja jetzt Zeit, die Familie zu therapieren, sage ich mir erleichtert.
Sascha, die Malerin, kommt vom Haus
ihres Bekannten zurück – dem mit dem Audioprogramm für
musizierende Maler. Der heisst Seppi – und ist der Neffe von Andi
und Maud!
Ich finde mein Vertrauen wieder zur
ordnenden Kraft meines königlichen Chaos. Bald darauf bieten Maud und
Andi meinen Musikern für diese Nacht ihr Gästezimmer an. Zeitgleich
erreicht mich ein Rückruf aus Wien. Dort habe ich nun auch für
meinen Pianisten ein Zimmer aufgetan. So hat sich alles hübsch geklärt.
Allein gehe ich zum Bahnhof und fahre
nach Wien, denn ich habe noch einen unaufschiebbaren Interviewtermin
im Interconti. Der Journalist hat wenige Tage zuvor einen Skandal
ausgelöst, weil er Jan Delay zitiert hat, der Heino als alte Nazi
bezeichnet hat. Jetzt noch ein Presseskandal um meine Person in
Österreich? Na, merci... ich sage nur äußerst unverfängliche
Dinge!
Kurz vor 23 Uhr schelle ich im Palais
Riedl 1 und begrüße Meister Riedl himself mit den Worten: „Freund
Riedl! Auf dem Transportmittel meines eigenen Zahnfleisches reisend,
erbitte ich ein Nachtasyl...“ Wir umarmen uns.
In der Küche sitzt Sir Roland und
schaut sich die Verfilmung des Musicals „Hair“ an. Ich bin
überrascht, wie wenig verstaubt dieses Werk von 1979 filmisch wirkt.
Aber bevor diese ganzen hübschen Jungs kahlgeschoren ins Flugzeug
steigen, um in Vietnam zu töten und getötet zu werden, verlasse ich
fluchtartig die Küche.
Im Wohnzimmer setze ich mich auf den
Diwan und breche den Versuch, Freund Riedl meine Situation in
Deutschland zu erläutern aber sogleich ab nach den Worten „Stefan,
ich bin umkämpft und fühle mich zerrissen, wie das Kind im
kaukasischen Kreidekreis...“
Wir hören Radio Stefansdom.
Wir reden über Stefans
Dekorationsentwürfe für den bevorstehenden Live Ball.
Wir vergessen den Krieg, umgeben von
alten Büchern, gigantischen Kandelabern und den großformatigen
homoerotischen Gemälden aus des Meisters eigener Hand. Wir sinken
zurück ins 18. Jahrhundert, die Katzen streichen mir ums Bein, Der
Riedl bringt mir einen frischen Weißwein … dann ziehe ich mich
zurück, um endgültig Ruhe zu finden.
Stattdessen finde ich auf meinem
Smartphone Emails und Nachrichten vor, die einer sofortigen,
nächtlichen Beantwortung bedürfen. Unruhig mich wälzend liege ich
lange wach: meine Flucht ins 18. Jahrhundert ist dieses Mal kläglich
gescheitert, so dämmert mir. Draußen höre ich im Morgengrauen eine
Blaskapelle. Sie spielt: „Die Arbeiter von Wien“. Es ist der 1.
Mai.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen